Als Gerichtsvollzieher auf dem Rötenberg

1991,  also vor 25 Jahren, wurde ich an das Amtsgericht Aalen versetzt, und seinerzeit war es üblich, dass der Neue den Rötenberg bekam. Ich habe mit dem Bisherigen gebrochen, und freue mich, bis zu meiner Pensionierung, in zwei Jahren, dem Rötenberg treu geblieben zu sein.

Heute würde sich die Immobilienbranche die Finger danach lecken  –  schöne Südwestlage, immer Sonne, und durch die Hanglage ein wunderschöner Ausblick in die Aalener Bucht hinein. Nein, man wollte die etwas anderen nicht bei sich haben, und setzte sie vor die damalige Stadt. Durch die Lageist der Ring Saum-/ Hangweg, verbunden mit zahlreichen „Stäffele“ dazwischen, eigentlich eine attraktive, heutzutage stadtnahe Wohngegend geworden. Und ganz in der Nähe, dem Stadtoval, entsteht nun auch noch ein Kultur- und Wohnwohlfühlbereich in Vorzeigequalität.

Gerichtsvollzieher im Rötenberg zu sein bedeutet, nie den Boden unter den Füßen verloren zu haben. Ich kenne noch die Häuser mit Etagentoiletten, keinen Nasszellen und undichten Fenstern. Echte Rötenberger, jetzt darf ich leider keine Namen nennen, würde das aus Respekt aber gerne tun, hatten sich darin immer gut eingerichtet. Die Haustüren standen Tag und Nacht offen, Strom wurde gelegentlich stibitzt, man half sich, wo man konnte. Wie oft habe ich nur noch 2 vorhandene, herausschauende Drähte einer Klingel mit meinem Autoschlüssel verbunden damit Strom fließen konnte, um mich akustisch anzukündigen. Asozial? – ich verstehe heute etwas anderes davon. Dort wo Nachbarn nichts mehr voneinander mitbekommen, herrscht doch eine viel größere soziale Armut.

Gut, die Leute hatten nichts, das war dann aber für mich als Gerichtsvollzieher auch kein Problem. Anstatt zu vollstrecken, war ich den Lebensgeschichten ausgesetzt.  Da war keine gleich. Ich sah eine ganze Generation heranwachsen und mancher, aus der zweiten und jetzt dritten, hat sein Ding gemacht. Manche gingen fort, zogen in andere Stadtteile, und ließen den Rötenberg hinter sich – sahen mich nie wieder. Andere kehrten aber auch wieder zurück, in so etwas wie ihre Heimat. Und einige sind geblieben, bis heute, haben das Quartier nie verlassen, allenfalls die Wohnung gewechselt.

Es gibt welche, die glauben, eine Gesellschaft funktioniert am besten emotionslos – ich gehöre nicht zwingend zu diesen. Ja, es geht schon manchmal laut zu im Rötenberg – die Fenster sind oft offen. Dann kann aber der Groll auch nach draußen verrauchen – und morgen verträgt man sich wieder.

Die Belegungspolitik der Stadt bzw. der „Wohnungsbau“ scheint auch aufzugehen. Man mag da nicht mit mir einig sein, aber dass in jedem Hauseingang ganz unterschiedliche Ethnien und Nationen wohnen, verhindert eine Ghettobildung und lässt einer Integration mehr Initiative und Spielräume.

Vielleicht sehe ich das eine oder andere auch zu rosig, aber durch meine Devise: So wie ich in den Wald hineinrufe, kommt es zurück!, bin ich selbst in all diesen Jahren hier oben nie in eine schwierige Lage geraten. Das Verhalten, des von mir zu besuchenden Klientel, habe ich immer im Kontext zu deren Lebenswelt, der ich in all den Jahren sehr nahe kommen durfte, gesehen. So gibt der Rötenberg nicht mehr schrille Begegnungsgeschichten her, wie andere Stadtteile von Aalen – was viele Außenstehende doch eigentlich vermuten würden. Und durch die Neubauten, sowie umfangreichen Sanierungen und Renovierungen, hat sich das G‘schmäckle, das den Rötenberg einst umgab, fast aufgelöst.

In diesem Sinne, wünsche ich dem Quartier weiter alles Gute – halten Sie mich die zwei Jahre noch aus. Allerdings – besseres kommt oft nicht hinterher.

Joachim Werner

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